Heute vor 100 Jahren endete der Erste Weltkrieg. Er ist die Urkatastrophe des zwanzigsten Jahrhunderts. Bis heute prägen seine Auswirkungen Europa. Fast zehn Millionen Menschen fielen ihm zum Opfer. Dem Kriegsende am 11. November 1918 folgten 21 Jahre Waffenstillstand. Am 1. September 1939 begann mit dem deutschen Überfall auf Polen ein Weltkrieg, der noch größere Opfer fordern sollte. Das Volk der Täter war gleichzeitig eines der größten Opfer. Fast sieben Millionen deutsche Kriegstote, davon über fünf Millionen Soldaten. Hunderttausende von ihnen ruhen noch immer in fremder Erde.
Im August mache ich mich auf, einen bestimmten von ihnen zu besuchen. Daraus wird eine Auseinandersetzung mit meiner Familiengeschichte und mit Krieg, Flucht und Vertreibung.
Campingurlaub in den Niederlanden. Amsterdam, Den Haag und die Nordseeküste stehen auf dem Programm. Bei der Anreise stoppe ich in der kleinen Gemeinde Ysselstein, wenige Kilometer hinter der niederländischen Grenze. Auf einer Kriegsgräberstätte ruhen hier über 31.700 deutsche Gefallene des Zweiten Weltkrieges. Einer von ihnen: mein Urgroßvater Gerhard Hauptfleisch.
Es ist ein seltsames Gefühl, das erste Mal zum Grab eines engen Verwandten zu fahren, den man nie gekannt hat. Zum Soldatenfriedhof fährt man durch eine typisch niederländische Landschaft. Lange, schnurgerade Straßen durchqueren Dörfer mitten in flachen, großen Feldern. Die Häuser sind aus Backstein, mit hübschen weißen Fenstern und grünen Türen. In Ysselstein liegt ein unscheinbarer kleiner Parkplatz am Rande der Landstraße. Man geht durch ein kleines Wäldchen. Dann tritt man zwischen zwei Backsteingebäuden der Friedhofsverwaltung hindurch und steht plötzlich am Rande eines riesigen Gräberfeldes. So weit man sehen kann, erstrecken sich fast 32.000 graue Steinkreuze. Ich bin zunächst überwältigt.
Danach beginne ich mich langsam zu orientieren. Während ich die gepflasterte Allee entlang gehe, lese ich links und rechts Namen. Oder auch nicht: auf einem großen Teil der Kreuze steht nur „ein deutscher Soldat“. Alter der Toten: 18, 19, 20. Manche 15 oder 16. Wenige älter als 30. Es ist in Teilen ein Friedhof der Kinder. Adelige Namen sind dabei und ganz normale. Angehörige von Wehrmacht, Polizei, Hitlerjugend und SS. Wer von ihnen war Opfer, wer Täter? Hier liegen sie nebeneinander, in der Erde eines fremden Landes. Sie alle mussten bezahlen für die Hybris eines Regimes, das die Welt beherrschen wollte. An was dachten sie in ihren letzten Stunden? War ihr Tod leicht? Haben sie mit ihrem Tod bezahlt für das Unrecht und die Verbrechen, die sie auf ihren Feldzügen verübten?
Und hier kommt mein Urgroßvater Gerhard Hauptfleisch ins Spiel. Unteroffizier Gerhard Hauptfleisch war seit 1939 Soldat. Seit Beginn des Krieges kämpfte er bei der Infanterie an der Ostfront und wurde ausgezeichnet mit dem Eisernen Kreuz. Im Herbst 1944 fährt er aus Russland zu seinem letzten Heimaturlaub nach Schweidnitz bei Breslau. Seine Frau ist mit ihrem ersten gemeinsamen Kind hochschwanger. Was genau er in diesen letzten Tagen in der Heimat gemacht hat, weiß heute niemand mehr. Aber er erzählt seiner Frau – meiner Urgroßmutter – von seinen Bedenken. Er wird ab sofort an die Westfront geschickt, um in Holland zu verhindern, dass Briten und Amerikaner ins Reich vorstoßen. Er hat ein sehr ungutes Gefühl dabei – im Westen gibt es neue Waffen, andere Taktiken. Es ist ein anderer Krieg als in der Sowjetunion. Und verloren ist der Krieg eigentlich auch.
Niemand kann sagen, was ihn bewegte. Oder was er im Osten bereits erlebt oder getan hatte. Jedenfalls fährt er nach dem kurzen Urlaub Richtung Westen. Am 31. Oktober 1944 kommt seine Tochter zur Welt – meine Großmutter. Am 3. November 1944 meldet sich Unteroffizier Gerhard Hauptfleisch freiwillig für ein Spähtrupp-Unternehmen. Im Gefecht wird ihm durch eine Explosion ein Bein abgerissen. Er verblutet auf dem Weg ins Lazarett. Er hat wahrscheinlich nie erfahren, dass seine Frau zwei Tage zuvor einem gesunden kleinen Mädchen das Leben geschenkt hat.
Meine Urgroßmutter ist nun Witwe. Alleine in der Heimat, mit einem Säugling. Fast alle Männer in der Familie sind an der Front – viele sind ebenfalls gefallen. Der einzige Mann, der noch vor Ort ist, ist mein Ururgroßvater, der Vater meiner Urgroßmutter. Er ist Postbeamter und zu alt für den Wehrdienst. Bereits wenige Wochen nach dem Tod meines Urgroßvaters und der Geburt meiner Großmutter beginnen in Schweidnitz die Vorbereitungen für die Evakuierung der Zivilbevölkerung. Die Front kommt immer näher.
Im Januar 1945 beginnt die Schlacht um Breslau und damit die Flucht der restlichen Zivilisten in der Region. In Viehwaggons fährt meine Urgroßmutter mit den restlichen Frauen und Kindern der Familie Richtung Dresden. Mein Ururgroßvater muss als Postbeamter bis zuletzt vor Ort bleiben – jetzt ist jeder auf sich gestellt. Bei eisigen Temperaturen im Güterwaggon bettelt meine Urgroßmutter um Essen – manchmal gibt es für meine Großmutter ein wenig Milch von einem Bauern, der eine Ziege mit auf die Flucht genommen hat.
Der Transport wird auf dem Weg nach Dresden umgeleitet. Zum Glück, denn bei den großen Luftangriffen Anfang Februar sterben dort 25.000 Menschen. Die Mehrzahl von ihnen sind Flüchtlinge. Für meine Urgroßmutter gibt es eine Zwischenstation in einem Auffanglager im heutigen Tschechien. Dort endet für sie der Krieg. Währenddessen macht sich mein Ururgroßvater auf die Suche nach dem Rest der Familie. Er packt die wichtigsten Unterlagen, schlachtet seine Stallhasen, packt alles auf sein Fahrrad und fährt Richtung Westen. Zurück bleibt die alte Heimat: Häuser, Bauernhöfe und ein Tante-Emma-Laden, den mein Urgroßvater vor dem Krieg betrieben hat.
Doch wie sollen sich alle wiederfinden? Niemand weiß, ob der andere noch am Leben ist. Durch hartnäckiges Nachforschen erfährt mein Ururgroßvater, dass der Transport mit seiner Familie nach Tschechien umgeleitet wurde. Er sucht weiter mit seinem Fahrrad. Seine Hasen hat er längst unterwegs gegen Unterkunft, Essen und Informationen eingetauscht. Er hat nur noch das, was er am Leib trägt. Als gelernter Schuhmacher arbeitet er unterwegs gelegentlich gegen Kost und Logis. Der Mann im Rentenalter fährt weitere Wochen mit dem Rad durch halb Mitteleuropa und findet in einer Gastwirtschaft zufällig eine Bekannte, die ihn wieder auf die Spur meiner Urgroßmutter bringt. Sie treffen sich schließlich in einem Lager nahe der neuen Grenze zu Deutschland.
Doch damit ist die Flucht noch nicht abgeschlossen. Eine Rückkehr nach Schlesien ist ausgeschlossen. Die tschechischen Autoritäten wollen meine Urgroßmutter in ein Arbeitslager einweisen – und meine nicht einmal einjährige Großmutter in ein Waisenhaus. Daraufhin entscheiden sie sich für einen gefährlichen Schritt. In einer dunklen Nacht überqueren sie mit einem Führer die grüne Grenze nach Bayern: ein alter Mann und eine Frau mit einem Säugling. Die ganze Aktion ist hochgefährlich. Und tatsächlich werden sie entdeckt und man schießt auf die kleine Gruppe. In der Dunkelheit können sie jedoch sicher nach Bayern gelangen.
In Bamberg angekommen, übernachten sie zunächst in einem Stall – die Weihnachtsgeschichte lässt grüßen. Hier in Bamberg ist auch der alteingesessene Teil meiner Familie – damals fremde Menschen. Jedoch weiß natürlich noch keiner, wie sich künftig ihre Wege treffen werden. Viele Jahre werden noch vergehen, bis mein Großvater meine Großmutter kennenlernt und das erste Mal zum Tanzen ausführt. Meine Großväter und meine andere Großmutter sind auch etwas älter: sie alle sind bereits in der Schule. Ihre Väter sind kriegsversehrt oder in Gefangenschaft – aber immerhin am Leben. In den nächsten Jahren bauen sich die Flüchtlinge ihr Leben in der neuen Heimat auf.
Bis heute hat das Trauma von Flucht und Vertreibung die Betroffenen nicht losgelassen. Ich selbst bin ohne diese Geschichte nicht denkbar.
In der Welt gibt es noch immer Kriege, es gibt noch immer Tod, Verwundung, Flucht und Vertreibung.